In der Tierarzt-Sprechstunde interviewt AniForte heute den Tierarzt Philipp Schledorn zum Vestibularsyndrom beim Hund. Hierbei handelt es sich um eine Störung des Gleichgewichtsinns, die ohne Vorankündigung auftritt. Die Tierarzt-Sprechstunde soll es Dir ermöglichen medizinische Beispielfälle aus erster Hand kennen zu lernen. Philipp Schledorn berät mit seiner Fachkompetenz in tiermedizinischen Fragen.
AniForte®: Herr Dr. Schledorn, wie sieht ein typischer Fall des Vestibularsyndroms aus?
Dr. Schledorn: Ich habe aktuell den Fall eines 12jährigen Labradors namens Max, der um vier Uhr morgens in die Klinik eingeliefert wurde. Die Hundebesitzer waren bereits am Telefon sehr verzweifelt, da sie vermuteten ihr Tier leide an einem Schlaganfall. Da die Symptome ganz plötzlich aufgetreten waren, wollten sie sofort in die Klinik kommen. Sie trugen Max in einem Bettlaken – er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sicher laufen. Als ich den Hund sah, ahnte ich sofort, was passiert sein musste. Der Hund hielt seinen Kopf schief, seine Augen zuckten und bewegten sich ruckartig von links nach rechts. Diese Bewegungen nennen wir Nystagmus. Nach der gründlichen Untersuchung bestätigte sich das Erkrankungsbild eines geriatrischen Vestibularsyndroms.
AniForte®: Was genau ist ein Vestibularsyndrom?
Dr. Schledorn: Unter Vestibularsyndrom verstehen wir eine Störung des Gleichgewichtsorgans. Wir und der Hund haben zwei solcher Organe. Diese liegen jeweils im rechten und linken Innenohr. Wenn eines der beiden Gleichgewichtsorgane ausfällt, erhält das Gehirn keine konkreten Informationen mehr, wo oben und unten ist. Der Hund hat das Gefühl, ständig in Bewegung zu sein. Das verursacht Übelkeit. Erinnern Sie sich noch an die letzte Achterbahnfahrt? Wenn wir aussteigen und wieder Boden unter den Füßen haben, benötigen wir einen kurzen Moment, um uns wieder zu orientieren. In den ersten Stunden der Krankheit fühlt sich Max pausenlos so, als ob er Achterbahn fährt oder seekrank ist. Das ist natürlich sehr unangenehm.
AniForte®: Was sind die Anzeichen für ein Vestibularsyndrom?
Dr. Schledorn: Das plötzliche Auftreten der Symptome ist charakteristisch für die Erkrankung. Max zeigte von jetzt auf gleich ohne kontinuierliche Verschlechterung folgende Symptome:
- den beschriebenen Nystagmus, also die Augäpfel bewegen sich ununterbrochen ruckartig von rechts nach links
- die Kopfschiefhaltung
- einen schwankenden, unsicheren Gang. Zum Teil lief Max nur im Kreis als wäre er betrunken.
- Orientierungslosigkeit
- Erbrechen - Die Familie von Max berichtete mir, dass er Zuhause erbrochen hatte und er speichelte vermehrt
- Schwierigkeiten bei der Futteraufnahme
AniForte®: Was ist die Ursache für das Vestibularsyndrom beim Hund?
Dr. Schledorn: Zurzeit gibt es nur Vermutungen, warum das Syndrom entsteht. Hierzu zählt eine schwere Ohrenentzündung, die zur Erkrankung des Gleichgewichtsorgans führt. Auch eine akute Durchblutungsstörung wird als Ursache vermutet.
AniForte®: Wie ist der Krankheitsverlauf bei einem Vestibularsyndrom?
Dr. Schledorn: Natürlich sind die Symptome sehr unangenehm, aber in der Regel tritt nach drei Tagen eine deutliche Besserung auf und der Hund kann danach sicher noch ein hundewertes Leben führen. Das Augenzucken stellt sich in der Regel nach zwei bis drei Tagen deutlich ein. Der schwankende Gang wird auch im Verlauf der ersten Woche deutlich stabiler. Die Kopfschiefhaltung kann allerdings sehr lange bestehen bleiben. Aber Max wird sich damit arrangieren können und noch ein beschwerdenfreies Leben führen können.
Man darf nicht vergessen, dass nicht nur Max geholfen werden muss, sondern auch seiner Familie. Es ist für uns alle schrecklich unseren Hund, der in jedem Haushalt heute ein festes Familienmitglied ist, so leiden zu sehen. Für mich war es besonders wichtig, dass ich Max´ Familie, nachdem ich ihn versorgt hatte, in Ruhe erklären konnte, wie die Aussichten für ihren Hund sind.
AniForte®: Wie konnten Sie Max helfen?
Dr. Schledorn: Zunächst habe ich Max gründlich untersucht, hierzu zählt eine allgemeine Untersuchung, besonders der Ohren, sowie eine Blutuntersuchung. Nachdem ich sicher war, dass keine andere Ursache für sein Verhalten verantwortlich sein kann, haben wir als erstes die Durchblutung durch Infusionen gefördert. Max bleibt im Anschluss, je nach nachdem wie schnell die Genesung voranschreitet, zwei bis drei Tage bei mir in der Klinik. Um den Brechreiz zu stoppen, erhält Max ein Arzneimittel gegen Übelkeit. Wichtig ist es, dass Max auch nach dem Klinikaufenthalt weiterhin täglich ein durchblutungsförderndes Arzneimittel erhält. Gerne verabreiche ich noch ein Vitamin-B Präparat, welches die Nervenfunktion verbessert.
In den ersten Tagen in der Klinik füttere ich Max aus der Hand, weil ihm die Futteraufnahme aus dem Napf sehr schwer fällt.
Auch Max‘ Besitzer haben mich gefragt, wie lange Ihr Familienliebling in der Klinik bleiben soll. Meine Antwort ist immer dieselbe: Das hängt von Max ab. Je nachdem, wie schnell er sich erholt. In der Regel bleiben die Hunde zwei bis drei Tage zur Infusion, zusätzlichen Therapie und intensiven Pflege in der Klinik.
Also kurz zusammengefasst heißt das:
- Infusionen in der Klinik, um das Gleichgewichtsorgan schnell besser zu durchbluten.
- Ein Arzneimittel gegen Übelkeit
- Vitamin-B-Präparat zur Unterstützung der Nervenfunktion (z.B. Bierhefe oder Spirulina)
- Fütterung aus der Hand, kleine Portionen
AniForte®: Ist das Vestibularsyndrom beim Hund ein Grund, um ihn zu erlösen und gehen zu lassen?
Dr. Schledorn: Für einige Hundebesitzer stellt sich die Frage, ob sie ihren alten Weggefährten so augenscheinlich leiden lassen möchten. Aber ich sage klar und deutlich: das Vestibularsyndrom beim Hund ist kein Grund, um ihn zu erlösen. Die Hundehalter sehen ihren Hund leiden. Das tut weh, aber innerhalb kurzer Zeit nach der Behandlung machen die Vierbeiner in der Regel schnell Fortschritte.
AniForte®: Kann es beim Vestibularsyndrom zu Rückschlägen in der Heilungsphase kommen?
Dr. Schledorn: Max ist mit seinen 12 Jahren schon in einem fortgeschrittenen Alter. Das bedeutet, dass auch die Regeneration etwas länger dauern kann. Natürlich kann ein erneutes Vestibularsyndrom auftreten, so wie jede Erkrankung erneut auftreten kann.
AniForte®: Wie geht es weiter, wenn Max nach Hause kommt?
Dr. Schledorn: Wenn Max Zuhause ist sollte er von Woche zu Woche Fortschritte machen. Diese Beobachtung ist wichtig. Um die Fortschritte zu erkennen empfehle ich Max’ Familie eine Checkliste zu erstellen. Die Liste soll ihnen Mut machen und die Entwicklung von Max festhalten. Das ist besonders wichtig in den ersten Tagen.
- Kann Max ohne Probleme wieder aufstehen?
- Hat er noch einen schwankenden Gang?
- Hat er noch eine Kopfschiefhaltung?
- Zeigt er noch Erbrechen?
- Hat er noch Schwierigkeiten bei der Futteraufnahme?
- Zeigen seine Augen noch den typischen Nystagmus?
Diese Checkliste kann gemeinsam mit dem Tierarzt bei den regelmäßigen Nachuntersuchungen durchgegangen werden.
AniForte®: Was muss Max` Familie in den ersten Tagen beachten?
Dr. Schledorn: Wichtig ist eine ruhige Umgebung. Fliesen und andere glatte Böden sollten mit Teppichen ausgelegt werden, damit Max sicherer durch die Wohnung laufen kann. Die Fütterung erfolgt in den ersten Tagen per Hand, hier sollte ein leicht verdauliches Futter angeboten werden. Lieber mehrmals kleine Portionen füttern als einmal eine große Portion. Das entlastet den Organismus. Beim Spaziergang sollte Max an der Leine geführt werden. Wenn nötig, kann bei den ersten Gassi-Runden auch ein Handtuch unter dem Bauch die nötige Sicherheit bieten. Max sollte regelmäßig zur Kontrolle beim Tierarzt vorgestellt werden, damit der Fortschritt der Genesung kontrolliert werden kann.
AniForte®: Wie kann man als Hundebesitzer gegen das Vestibularsyndrom vorbeugen?
Dr. Schledorn: Alte Hunde sollten regelmäßig untersucht werden. Zum Beispiel sollten Sie als Hundehalter die Ohren Ihrer Lieblinge immer wieder prüfen. Es wäre schrecklich, wenn eine schwere Ohrentzündung zur Schädigung des Gleichgewichtsorgans führt.
AniForte®: Warum wird das Vestibularsyndrom auch als Schlaganfall beim Hund bezeichnet?
Dr. Schledorn: Mit dem eigentlichen Schlaganfall, an dem wir Zweibeiner erkranken können, ist das Vestibularsyndrom nicht zu vergleichen. Gemeinsam haben sie nur, dass die Symptome von jetzt auf gleich auftreten. Der Schlaganfall beim Zweibeiner entsteht durch eine Erkrankung im Herzkreislaufsystem, das Vestibularsyndrom beim Hund wird durch eine Störung des Gleichgewichtsorgans im Innenohr verursacht.
AniForte®: Vielen Dank für das interessante Gespräch.
Dr. Schledorn: Vielen Dank für die Einladung. Ich wünsche allen Lesern und ihren Hunden viel Gesundheit oder schnelle Genesung.
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Die Symptome für das Vestibularsyndrom sind anhand der Tipps von Tierarzt Philipp Schledorn leicht selbst zu erkennen. Deinen Hund schützt Du, besonders im Alter, am besten durch Tierarztbesuche und die regelmäßige Untersuchung seiner Ohren.
Du hast Erfahrungen mit dem Vestibularsyndrom bei Deinem Hund gemacht? Dann teile Deinen Bericht gerne in den Kommentaren.
Übrigens: Es gibt auch das kogenitale Vestibularsyndrom beim Hund, eine seltene Erbkrankheit. Die Symptome ähneln dem Vestibularsyndrom und lassen sich auf eine angeborene Störung des Gleichgewichtsinns zurückführen, allerdings kann Taubheit hinzukommen. Die Anzeichen zeigen sich bereits in den ersten Lebenswochen eines Welpen. Zwar ist keine Behandlung möglich, aber der Zustand des Hundes bessert sich meist schon im zweiten Lebensmonat, so dass er noch ein gutes Leben führen kann. Nachwuchs sollte er allerdings nicht zeugen, da die Krankheit vererbt wird.